Bei meiner diesjährigen einwöchigen Wienreise – der vierten innerhalb von 10 Jahren – hatte ich Gelegenheit, zwei besondere Bibliotheken besichtigen zu können.
Zunächst sei die Bibliothek der Arbeiterkammer Wien (AK) genannt. Ursprünglich 1921 gegründet, ist sie die bedeutendste sozialwissenschaftliche Bibliothek in Österreich. Und ihr Bestand von etwa 450.000 Bänden, mit etwa 750 laufend gehaltenen Zeitschriften und umfangreichen Sammlungen zur Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, zur Geschichte der europäischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts sowie zur Geschichte der Nationalökonomie und der Sozialpolitik, ist über Österreich hinaus im ganzen deutschen Sprachraum von Bedeutung. Seit 1960 residiert die AK in der Nachbarschaft des Belvedere. Allerdings war das Gebäude mit der Zeit den veränderten Anforderungen nicht mehr gewachsen. Von 2006 bis 2008 wurde es umgebaut, und so konnte ich, nachdem ich die AK 1999 noch in den alten Räumen kennengelernt hatte, ein architektonisch eindrucksvoll gestaltetes Haus mit einer jetzt wieder ausgezeichnet untergebrachten Bibliothek bewundern. Es gibt viele gelungene Details zu bestaunen. Als Beispiel hier ein Foto aus dem Eingangsbereich. Auf dieser riesigen Tafel sind eine Menge der für das Sammelgebiet der AK-Bibliothek bedeutenden AutorInnen aufgeführt.
Und dieses originelle Detail habe ich noch nirgends gesehen: ein Lift mit Glastüren, durch die man auf der gegenüberliegenden Wand des Aufzugsschachtes wichtige Termini des Sammelgebietes lesen kann, wenn die Kabine unterwegs ist.
Nahezu alles ist beim Umbau des AK-Gebäudes gelungen. Herausgekommen ist ein äußerst stimmiges Gebäude.
Die zweite bibliothekarische Station war die 2003 eröffnete Hauptbücherei. Meine nicht geringen Erwartungen wurden erfüllt: so muss eine gute Öffentliche Zentralbibliothek aussehen. Ein großes Medienangebot mit viel Platz, offensichtlich gut angenommen.
Zumindest an diesem Tag, einem Samstag, war die Bibliothek gut besucht. Die direkte Anbindung an U- und Straßenbahn sowie ein nettes
Cafe auf dem Dach des Gebäudes vervollständigen die Infrastruktur. Es gibt übrigens absolut keine Zugangsbeschränkungen und keine Eingangskontrolle. Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Rucksack auf dem Rücken durch eine große Bibliothek spaziert. Das ich das noch erleben durfte!
Zwei Dinge seien hervorgehoben. Zum einen hat die Bibliotheksleitung keine Angst vor den neuesten Entwicklungen auf dem Buchmarkt. Man ist eine Kooperation mit Sony eingegangen und präsentiert seit dem 15. September im Lesesaal eine e-Book Reader Lounge, in der Gelegenheit besteht, sich mit dem Ding vertraut zu machen und es auszuprobieren. (Netbib und Infobib, das ist doch euer Terrain und durchaus eine Meldung wert!)
Noch wesentlich verblüffter war ich aber schon beim Eingang in die Bibliothek. Einen kurzen Moment überlegte ich, wieso man neben der Hauptorientierungstafel einen Kaugummiautomaten aufgestellt hatte. Dann erkannte ich es: es handelte sich um einen Ohrstöpsel-Automaten! Also wirklich! Statt das „Shhhhh!“ durchzusetzen, der Verkauf von Ohrstöpseln. Liebe KollegInnen aus den deutschen (Großstadt-)ÖBs, ist das inzwischen Standard? Gibt es das bei euch auch schon?
Bisher hatte ich immer gedacht, dieser Unshelved-Comic sei zwar sehr witzig, entbehre aber der Realität. Von wegen!
Zu meinem dritten bibliotheksbezogenem Erlebnis in der Wien-Woche ist mir Haftgrund zuvorgekommen, so dass ich mich kurz fassen kann. Die Wiener Straßenzeitung „Augustin“ hat in ihrer aktuellen Ausgabe einen ganzseitigen Artikel über eine Kollegin veröffentlicht, die in einer Stadtteilbibliothek im 2. Bezirk arbeitet. Der Bericht kommt dabei ohne die sattsam bekannten Klischees aus. Vielleicht liegt das an der gewürdigten Person, vielleicht aber auch am Medium; der Augustin ist weiß Gott kein bürgerliches Druckerzeugnis.
Auf einen bei Haftgrund nicht zitierten und erwähnten Aspekt, der für die Wiener Kollegin, mich selbst und sicher auch viele andere etwas ältere Bibliothekswesen in ihrer beruflichen Entwicklung eine Rolle gespielt hat, werde ich aber demnächst noch etwas näher eingehen. Bis dahin: ba-baa!
PS: Hier noch mein nicht-bibliothekarischer Wien-Geheimtipp. Einer der schönsten Plätze der Stadt wird von Touristen nahezu überhaupt nicht frequentiert. Dabei ist er ein echtes Kleinod in dieser mit prachtvollen Plätzen und Straßen nicht geizenden Metropole. Zitat aus dem DuMont-Wien-Reiseführer von Karl Unger über den Jodok-Fink-Platz im 8. Bezirk, nicht weit entfernt vom Rathaus: „Schon der große Stadtplaner Camillo Sitte hob dessen Intimität im Gegensatz zur herzlosen Ringstraße hervor. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In den Sommerabenden hat er ein leicht römisches Gepräge – nicht nur, weil hier eine Pizzeria einen Gastgarten betreibt. Die hochbarocke Kirche Maria Treu … gibt einen stimmungsvollen Hintergrund, vor dem sich die ganze Leichtigkeit des Wienerischen Lebens entfalten kann.“ Und die Kellner lassen sich dort anscheinend von der Atmosphäre anstecken. Sie sind überaus freundlich, was in Wien keine Selbstverständlichkeit ist. Und da in meiner Wien-Woche noch herrlichstes Wetter war, habe ich die intime Stimmung des Platzes uneingeschränkt genießen können.
Bisher dachte ich immer, dass Skandinavier und Niederländer die öffentliche Bibliothekswelt mit ungewöhnlichen Ideen fluten und zu größter Empörung bei den deutschen Buchhütern beitragen. Jetzt erkenne ich aber in den – zumindest bei uns – sehr geschätzten Wiener Kollegen auch diese Unbeschwertheit, Probleme ganz pragmatisch zu lösen! Ohrstöpsel! Wie einfach und genial ist das denn! Bei uns (eine öffentliche Großstadtbibliothek) werden komplizierte Raumkonzepte bezüglich des Laut/Leise-Problems entworfen und mit viel Geld versucht umzusetzen. Dabei kann man auch einen Kaugummi-Automaten mit Ohrstöpseln aufstellen!!!! Ich finde die Idee super und werde sie auf der nächsten Abteilungsleitersitzung anbringen…
By: charlystante on 14. Oktober 2009
at 13:56:01
Ui! Der Bericht macht Lust auf eine Wienreise. Vielen Dank.
By: Lahdihda on 20. Oktober 2009
at 8:24:08
lieber „haferklee“!
danke für diesen feinen bericht über die wiener „bibliothekslandschaft“.
herzliche grüße aus wien
georg schober
By: Georg Schober on 3. November 2009
at 14:50:02
Dank an alle für die netten Reaktionen!
@Georg: Da hätten wir ja glatt gemeinsam ein Haferl Kaffee auf der schönen neuen Terrasse der AK trinken können! Schade, dass ich das nicht wusste. Na, dann vielleicht beim nächsten mal. Herzliche Grüße zurück aus Bonn.
By: haferklee on 3. November 2009
at 20:20:08
[…] https://haferklee.wordpress.com/2009/10/05/wien-bibliothekarisch/ […]
By: Bericht über AK-Bibliothek - Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare on 17. März 2022
at 21:33:09