Verfasst von: haferklee | 13. März 2016

Stirbt der Zettelkatalog?

Sehr gut erinnere ich mich an eine völlig überlaufene Veranstaltung auf dem Bibliothekskongress 2010 in Leipzig unter dem reißerischen Titel „Stirbt der OPAC?“ Es ging um die Zukunft der online-Kataloge, und vorgestellt wurden mehrere damals neue Ansätze, die die konventionellen OPACs mit Suchmaschinentechnik aufpeppten. Alles lief noch unter dem Schlagwort „Katalog 2.0“, der Begriff „Discovery System“ tauchte, beispielsweise in Anne Christensens Ankündigung zur Veranstaltung, nicht auf.

Dass es auch einmal einen Übergang vom Zettelkatalog zum OPAC gab, gerät allmählich in Vergessenheit; die meisten jungen Kolleginnen und Kollegen kennen Zettelkataloge bereits nur noch aus der Vorlesung zur Bibliotheksgeschichte. Donna Leon, die in ihren Kriminalromanen um den als Bücherfreund bekannten Commissario Brunetti  immer mal wieder Szenen in Bibliotheken einstreut, hat diesem Erschließungsinstrument ein kleines literarisches Denkmal gesetzt:

„Und wie komme ich an die Bücher, die ich brauche?“ fragte sie und sah sich nach Computern um.
Mit breitem Lächeln führte Ezio sie zu einem schulterhohen Karteischrank. „Kennst du die noch?“, fragte er und tätschelte ihn. „Den habe ich gerettet“, erklärte er stolz.
Oddio„, rief sie, ein Zettelkasten!“ Wann hatte sie so etwas das letzte Mal gesehen? Und wo? Wie eine Gläubige angesichts einer Reliquie trat sie näher und berührte das glatte Holz, zog ein Fach ein paar Zentimeter heraus und schob es vorsichtig wieder zu. „Zehn Jahre ist das her. Mehr.“ Dann in verschwörerischem Ton: „Ich liebe solche Schränke. Was man da alles entdecken kann“. Und noch leiser: „Erzähl. Wie hast du es angestellt?“
Sich in die Brust werfend, … sagte Ezio: „Die Karteikarten sollten alle vernichtet werden. Auf Befehl meines Vorgesetzten.“ Er holte melodramatisch zweimal tief Luft. „Erst habe ich ihm mit Kündigung gedroht.“
„Du bist noch hier, also ist es nicht so weit gekommen. Was ist dann geschehen?“
„Ich habe ihm angedroht, seiner Frau von seiner Affäre mit einer Kollegin zu erzählen.“
Statt lauthals loszulachen, fragte Caterina atemlos: „Das hättest Du wirklich getan?“
Ezio wiegte den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“
„Aber er hat eingelenkt?“
„Ja. Er sagte, wir könnten sie behalten, vorausgesetzt, dass niemand sie benutzt. Der Katalog sei vollständig zu digitalisieren, danach dürfe nur noch per Computer auf die Sammlung zugegriffen werden.“ Ezio verzog den Mund, als wolle er jeden Moment vor sich auf den Boden spucken. „Erst kam diese Anweisung, dann hat er die Mittel zusammengestrichen. Uns fehlte das nötige Geld.“
„Und der Computerkatalog?“
Er schwieg einen Moment, lächelte und spielte dann den Diplomaten, dem eine direkte Frage gestellt wird. „Er ist auf gutem Wege.“
„Und dein Vorgesetzter?“, fragte sie. Wieder schien er gleich ausspucken zu wollen: „Wurde in eine Provinzbücherei strafversetzt.“ Und ehe sie fragen konnte: „Offenbar entpuppten sich die drei letzten Kandidaten, die er hier angestellt hat, als Verwandte seiner Frau.“
„Wo arbeitet er jetzt?“
„Quarto d’Altino.“ Er grinste. „Ziemlich kleine Bücherei.“

Und genau so sind sie auch, die Brunetti-Romane: die Zettelkataloge des Krimi-Genres. Veränderung ist nicht gewünscht.

PS. Dass übrigens nicht nur digitale Dateien nicht fälschungssicher sind, sondern es auch Zettelkataloge wie zum Beispiel jener der französischen Nationalbibliothek nicht waren, kann hier nachgelesen werden.

Foto: Der veraltete Zettelkatalog der Sterling Memorial Library, Yale University. Public Domain.

Zitat aus: Donna Leon: Himmlische Juwelen. Zürich: Diogenes Taschenbuch, 2014. Seiten 99-100.

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