Welches Alibi gibt ein halbwüchsiger, in New York lebender Junge einem Freund, der heimlich seine Freundin besuchen möchte, wenn die Mutter fragt, wo er ist?
„Sag ihr, ich musste noch in der Schule bleiben oder so was.“
„Dann glaubt sie, du hast Ärger.“
„Na und?“
„Na, ich will nicht, dass sie in der Schule anruft und sich nach dir erkundigt.“
„Sag ihr, ich bin im Kino.“
„Dann will sie wissen, warum ich nicht mitgegangen bin. Ich kann doch sagen, du bist in der Bibliothek.“
„Was für eine lahme Ausrede.“
„Okay“ … Er zuckte die Achseln. „Das Hauptgebäude ist bis sieben Uhr abends geöffnet“, sagte er in seinem ausdruckslosen, fast matten Ton. „Aber ich muss ja nicht wissen, in welcher Zweigstelle du bist, wenn du vergessen hast, es mir zu sagen.“*
Das Zitat entstammt dem Roman „Der Distelfink“ von Donna Tartt, ein Werk, in dem die Autorin an anderer Stelle einer Romanfigur die folgende Frage in den Mund legt:
„Stimmt es, was man sagt, dass junge Leute heutzutage einen Abschluss machen können, ohne je einen Fuß in die Bibliothek gesetzt zu haben?“
In diesem Roman ist an mehreren Stellen von Bibliotheken ganz selbstverständlich die Rede. Selbst ein Musikbibliothekar kommt vor, und dieses Wort habe ich in einem literarischen Werk zum ersten Mal gelesen.
*Tatsächlich, zu meiner großen Überraschung: Die meisten Zweigstellen der berühmten NYPL haben (nur!) bis 19 Uhr geöffnet.
„Der Distelfink“ (1654). Gemälde von Carel Fabritius, Königliche Gemäldegalerie Mauritshuis, Den Haag. Public Domain.
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