Verfasst von: haferklee | 29. Juni 2009

Liebesgedicht für eine Bibliothekarin

Ihre Klassifikation ist zwar strikt dezimal,
doch von der Klasse her, da ist sie erste Wahl.

Dieser leicht holprige Zweizeiler stammt von James C. Sweatt, einem der beiden Protagonisten in Elizabeth McCrackens 1997 auf Deutsch erschienenem Roman mit dem wunderschönen Titel „Den Kopf in den Wolken“. Der Buchtitel ist absolut berechtigt, denn James ist krankhaft großwüchsig. Er misst, als er das kleine Gedicht verfasst, bereits 2,59 Meter, wächst immer noch weiter und ahnt , dass er mit seinen 19 Jahren nicht mehr lang zu leben haben wird. Das Gedicht richtet er an die 33jährige Peggy Cort, die sich um ihn kümmert, sich zu diesem Zeitpunkt in ihn verliebt hat und die, deshalb wird das Buch hier erwähnt, als Leiterin der Bibliothek an der Public Library von Brewsterville in Massachusetts arbeitet.

McCracken

James ist, seit er Peggys Bibliothek im Alter von 11 Jahren erstmals aufgesucht hat, ihr Lieblingsnutzer. Er hat vielfältige Interessen und liest alles mögliche. Dies gibt der gelernten Bibliothekarin (!) McCracken Gelegenheit, viele Aspekte unseres beruflichen Tuns in die tragische Liebesgeschichte einzustreuen, und zwar völlig unangestrengt, indem sie die Handlung aus der Sicht von Peggy erzählt. Noch viel verblüffender ist, dass das Bild, dass die Autorin von ihr zeichnet, zunächst vollständig dem Klischee einer Bibliothekarin entspricht, wie wir es alle kennen und hassen: „Bisher zogen das Leben und die Liebe an der Bibliothekarin Peggy spurlos vorbei“ (so die elende Klappentextformulierung). Viel besser, nämlich schärfer aber schon der erste Satz des Romans: „Ich liebe die Menschen nicht.“ Und dann gelingt McCracken das Kunststück, die Darstellung ihrer weiblichen Heldin von einem auf den ersten Blick vorgefertigten Stereotyp zu einer intensiven, sehr individuellen Charakterstudie zu verändern.

Das derzeit nur noch antiquarisch erhältliche Buch wurde nach meiner Einschätzung von uns Bibliothekswesen kaum wahrgenommen, obwohl es eines von überhaupt nur drei bis fünf deutschsprachigen Romanen ist, in dem bibliothekarische Tätigkeiten ausführlich geschildert und sinnvoll in die Handlung einbezogen werden (zum Beispiel, als James Literatur über seine Krankheit sucht), und in dem Überlegungen angestellt werden, warum wir eigentlich zu unserem Beruf kommen. Allerdings spielt die Handlung in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, Computer sind also noch nicht in Sicht. Bibliographisches Arbeitsinstrument ist der NUC, der jedem unvergesslich bleiben wird, der je das Vergnügen hatte, mit ihm zu arbeiten.

Für mich recht überraschend ist, dass McCrackens ambitionierter, anrührender und poetischer Roman in der famosen Bibliographie Berufsbild BibliothekarIn der Library Mistress keine besondere Empfehlung erhält; der in literarischer Hinsicht und vom Handlungskonstrukt her in meinen Augen doch eher konventionell geratene historische Krimi „Das Erbe von Seneca Falls“ von Miriam Grace Monfredo als einer von ganz, ganz wenigen hingegen schon.


Antworten

  1. Wirklich ein tolles Buch und ich stimme der Leseempfehlung auch gern zu

  2. Hallo Haferklee,
    vielen Dank für den Hinweis auf dieses Buch.
    Ich habe es mir sofort antiquarisch bestellt. Vielleicht wird es meine Urlaubslektüre.


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